Romane

GRETAS GEHEIMNIS Teil I - Das verborgene Zimmer

Mitternacht war lange vorbei, Carla stand immer noch in dem Raum. Irgendwann mal hatte sie sich umgedreht, hatte sich umdrehen müssen. In dem nächtlichen Viereck der Eingangstür, von unten, von der Straße nur schwach angeleuchtet von einem bereitstehenden Auto, stand ein schwarz gekleideter Mann, ein sanftes Lächeln lag auf seinem Gesicht. Er hatte ihr zugenickt, wie einer alten Bekannten, hatte sich ihr genähert, gefolgt von zwei weiteren Männern. Vor Carla blieb er stehen, legte seine Hand beruhigend auf ihren Arm. Beide sahen sich an, Carla erinnerte sich, sie hatten sich vor ein paar Stunden schon einmal gesehen, auf der Autobahn, bei einem Unfall, vor einer Ewigkeit, schien ihr. Der dunkle Hut, den er aufhatte, tauchte sein Gesicht in Schatten. Carla sah in dieses Gesicht, an das sie sich einen Tag später und all die Tage, die folgen sollen, nicht würde erinnern können, an kein einziges Detail: nur an die tiefe Ruhe, die das Gesicht ausstrahlte, so, als ob man auf ein tiefes Wasser blickt.
Der Mann war an ihr vorbei in den kleinen Raum gegangen. Er erhellte den Raum mit einem schwach phosphoreszierenden Licht, das ihn wie eine Aura umhüllte. Die beiden Männer, die ihm lautlos gefolgt waren, öffneten die längliche silberne Schale, die sie trugen, und legten Kristin hinein. Sie schlossen die Schale wie eine Muschel und folgten dem Mann mit den sanften Augen. Der Mann blieb wiederum in der Tür stehen, drehte sich um. Er sagte nichts, sprach keine Worte aus, doch Carla hörte, wie er seine Gedanken an sie richtete: Bei uns ist sie gut aufgehoben, bei uns ist sie zu Hause. Sie sagte nichts, nickte nur, wusste, dass es so war. Und Greta? fragte Carla, lautlos, wie kann ich sie beschützen?, und der Mann antwortete: Sie ist gefeit; lässt der Zauber nach, werde ich da sein. Du? Aber du bist doch der Tod!!… Das Auto mit den schwarz getönten Scheiben entfernte sich schon in die Dunkelheit.

Am nächsten Morgen, als Greta die Treppen heruntergestürmt kam, umarmte ihre Mama sie besonders lang, Greta ließ es geschehen. Dann nahm sie sie bei der Hand, beide gingen in den Raum hinter der Bücherwand.
“Männer haben sie abgeholt, gute Männer,” sagte Carla, wollte fortfahren, wollte Greta erklären, woher sie die Männer kenne, dass sie ihnen vertraue. Doch Greta fragte nicht, sagte nur wie zu sich selbst “es waren die Stillen Begleiter“.
Sie stand neben dem Tisch, strich über die milchige, leicht schimmernde Oberfläche, sanft, als begrüße sie einen Vertrauten, dann ging sie zum Bett. Sie neigte sich darüber, Carla näherte sich ihr, beugte sich über ihre Schulter. Silbriger Staub lag auf dem Bett, zeichneten die Konturen der Gestalt nach, die hier gelegen hatte.
“Es ist der Silberstaub eines unserer Toten, “ flüsterte Greta, ihre Mama verstand sie nicht, “ich habe das schon einmal gesehen, Manuel hat es mir gezeigt”, zärtlich verfolgte sie mit dem Finger die Konturen, wie in einem Spiel, “der Staub eines Menschen, der wiederkommt.”
Carla sah auf ihren Kopf hinunter, auf das zerzauste Haar, wie ihr Kind die Lagerstatt betrachtete. Sie konnte ihr Gesicht nicht sehen, hörte nur die Worte. Wieder kam ihr Greta unheimlich vor, fremd, die Worte, die sie da sagte, jagten ihr einen Angstschauer über den Rücken. In welche Welt entschwand ihre Tochter immer und immer wieder, unvermutet, in den alltäglichsten Augenblicken? Welche Welt war das, die ihr verborgen blieb, zu der sie keinen Zugang hatte? Durch eigenes Verschulden? Oder ließ Greta es nicht zu, dass sie die Welt kennen lernte, weil sie nicht dazu gehörte? Hatte sie Unwiederbringliches versäumt? Hatte sie im Leben ihrer Tochter übersehen, was wichtig war? War es zu spät? Hatte jemand anders schon das Herz ihres Kindes erobert, war sie von nun an nur Zaungast im Leben ihrer Tochter?
Doch in ihrer unnachahmlichen Weise beendete Greta diesen Moment. Sie drehte sich um, blickte zu ihrer Mama hoch und sagte: “Ich hab jetzt aber wirklich Hunger, Mami ! Hast du letzte Woche daran gedacht, Kaba zu kaufen? “

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